Die « lebendige Schrift » und ihre Nachkommenschaft
Ist ein Porträt des Staates noch möglich ?
Der Staat. Der Staat ! … Kehren wir zum Einmaleins, zu einfachen Überlegungen zurück, indem wir die Kraft dieses leeren Wortes betrachten. Leer geworden ist es, weil es von Generationen von Experten, die das modernistische Abendland gestaltet haben, seiner totemistischen Menschlichkeit und seiner historischen Inhalte entleert worden ist. Ein institutionelles Werkzeug wurde serienmäßig hergestellt, sollte überall, in alle Welt exportierbar sein.
Ein halbes Jahrhundert nach der großen postkolonialen Umwälzung, die auf den zweiten Weltkrieg folgte, ist die ganze Erde von Staaten übersät, wo so manche Marionettengestalten den Auftrag haben zu regieren, über sich auflösende Gesellschaften zu herrschen und dabei grauenhafte, unlösbare Konflikte in Kauf nehmen. Als Uno-Beobachter einiger solcher Dramen in der « Dritten Welt » zog ich daraus einen für mich zwingenden Schluss : da die Art und Weise, wie man die Form des Staates zur Sprache bringt, zu fossilem Gedankengut geworden war, beschloss ich, mich in meine Gelehrtenzelle zurückzuziehen, mit dem Versuch zu verstehen, was dieses so berühmte Wort « Staat » beinhaltet. Es entstammt den Abwandlungen des lateinischen « status », wurde beliebig verdreht, bis es schließlich in den westlichen organisatorischen Jargon eingeführt und zur allgemeinen Phrasendrescherei befördert wurde.
Ein Apolog meiner Fantasie weist auf die intellektuelle Bedürftigkeit hin, mit der heute die Reflexion über die Macht durch Managerberechnung ersetzt wird. Anhand einer Romanfigur von William Faulkner, habe ich die Wirklichkeit beschrieben, indem ich im Text das Wort « Moral » durch « Staat » ersetzt habe.
« … Diese Einfalt zu glauben, die Ingredienzen des Staates seien wie die Zutaten einer Torte oder eines Kuchens, und wenn man sie einmal abgemessen, gewogen, vermischt und im Ofen gebacken habe, sei alles gesagt und es könne daraus nur eine Torte oder ein Kuchen werden. »
Meine Interpolation hört sich richtig an. Nehmen Sie die wirtschaftlichen und finanziellen, demographischen, psycho-religiösen, militärisch-strategischen Ingredienzen. Fügen Sie das kulturelle Aroma hinzu. Bevor Sie alles zusammen im soziologischen Ofen backen, verrühren Sie es gründlich mit dem Schneebesen der Demokratie. Das muss einen Staat ergeben, eine wunderbare Sahnetorte, welche die Handelsvertreter des politischen Marketings verkaufen werden, ob sie nun Konservative oder Progressive sind.
Das Studium der Ausgewogenheit der verschiedenen Sprachen der Menschheit, als Spiegelbild der Innerlichkeit jeder Gesellschaft, zeigt den Prozess der Vereinheitlichung, die politische Küche und ihre Backrezepte : eine internationale Aktion mit dem Bulldozer konkurrierender Ideologien macht den Erdboden überall gleich, d. h. zerstört so weit es geht die Traditionen, um dort den Staat diesem oder jenem Standard gemäß einzurichten.
Zu einer « Weltreise der Konzepte » hatte ich einige Gelehrte ersten Rangs eingeladen — hier sei ihnen gedankt. Diese « Tour du monde des concepts » hat gezeigt, wie komplex die semantischen Schichten sind, die der internationale Konformismus aus dem Bewusstsein der Völker durch die Bulldozer der Modernisierung definitiv eliminiert zu haben glaubt. Doch eine Nation (was im Sinne des lateinischen Adjektivs natus so viel bedeutet wie dasjenige, weil es geboren ist, eine Genealogie voraussetzt) ist auch das Konservatorium uralter Niederschriften, die hinter den sozialen Kulissen Spuren von Bildern der Macht aufbewahrt haben, die für den so gefährlich betonten Positivismus des modernen Abendlands unfassbar bleiben. Hier einige Beispiele :
In der chinesischen Sprache : Nach dem antiken Ausdruck « Himmelssohn » hat die bisherige Entwicklung das Bild einer nationalen Familie entstehen lassen, in der die Untertanen sich der Autorität einer von Paternalismus und Maternalismus geprägten Macht gehorsam fügen.
Das Hindi in Indien : Das Wort für die moderne Konstitution und seine hohen Beamten beruht auf urzeitlichen Wortbildungen, rituellen Beschwörungsformeln, die den Schutz der Weltordnung gewähren sollen.
In Afrika, in Burkina Faso : Die Idee der politischen Macht bringt den Begriff der Erde, des Bodens ins Spiel, und erweitert ihre Bedeutung, indem sie auf das Land, das Dorf hinweist, dann eine größere Fläche bezeichnet, wo ein « Herrscher auf Erden » Recht spricht. Die Erde mit Großbuchstaben wird mit mystischen Kräften versehen, von denen alle Menschen abhängig sind.
Schließlich in der arabisch-persischen Sprache : ein traditioneller, polysemer Terminus hatte zuerst die Bedeutung von Erfolg, Wohlstand, doch erinnerte zugleich an die vergängliche, zyklische Erscheinung dieses Glücks. Doch ergab sich daraus die Bedeutung von herrschender Macht, von politischem Erfolg, die von der göttlichen Vorsehung verliehen wurden.
Kehren wir zu unserer eigenen Tradition zurück : Hat man sich jemals vorgestellt, der Staat als politische Form sei in Europa als gebrauchsfertige Institution geliefert worden ? Vielleicht sogar fertig gekocht vom christlichen Himmel gefallen ? Die verrückte Idee eines Staates, der außerhalb der Tradition stünde, ist den europäischen Denkern niemals in den Sinn gekommen… Bis zum Reifen des Gedankens einer « Revolution » musste man warten, ein Gedanke, der schon von den mittelalterlichen Schriftstellern gesät worden war — « die ganze Welt reformieren » (reformatio totius orbis) —, und schließlich musste man noch bis zum Auftreten der politischen Technokratie warten. Doch im Prinzip gehört die Exportation einer institutionellen Erfindung, die an einem bestimmten historischen Ort geschaffen wurde, zur Eroberung, und bestenfalls endet diese mit nicht vorhersehbaren kulturellen Vermischungen…
Nun taucht die Frage auf, die wir uns als Bewohner des Abendlands stellen müssen : auf welchen uns verschütteten Wegen sind wir intellektuell zu der Auffassung gelangt, dass der Planet, auf dem andere Menschen wohnen, diejenigen, die nicht wir sind, reorganisiert, modernisiert, umgebaut werden könnte, so als ob der Planet plötzlich zur tabula rasa geworden wäre.
Das systematische Löschen der Kulturen. Das Dickicht dieser Geschichte habe ich zu entwirren versucht. Auffallend ist das grenzenlose, blendende Vertrauen in unsere Methoden, die Zeit zu erforschen. « Über die Zeit herrschen ohne die Vergangenheit verstanden zu haben », mit dieser Formulierung von Walter Benjamin als Warnung wende ich mich an die blinden Pädagogen, die seit Jahrzehnten die so genannte « Éducation Nationale » in Frankreich bestimmen !
Eine lineare Geschichtsauffassung, die wie die Folge von umgeblätterten Seiten erlebt wurde, hat die Vorstellung von einer Art universaler Temporalität geschaffen, die als Maßstab für den Sinn der Plan-Weltgeschichte gelten soll. Dieser Maßstab soll auf einen Endpunkt hin konvergieren, auf das Omega der Entwicklung der Gesellschaften, d. h. eine absolute und totale Modernität, die das Wort als genealogischen Träger der Zivilisationen aushöhlt. Auf dem homogeneisierten, geschichtslos gewordenen Planeten würde sich dann die Orwellsche Prophezeiung verwirklichen : « Die Sprache bis auf den Knochen zerschneiden ». Doch eine Prophezeiung, die als Befreiung von der Qual verstanden wäre, denken zu müssen !
Das fährt uns mächtig in die Knochen ! Die globalisierte Welt entwickelt sich nicht wie vorgesehen. Der leblose Blick in die Vergangenheit ist für seine eigene Praxis blind. Der riesige Basar der Geisteswissenschaften, der verschiedenen Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, in denen sich überragende geistige Werke neben bedauerlichen Logorrhöen befinden, ist der Aufgabe, den Zugang zu den « Mysterien des Staates » zu zeigen, nicht gewachsen. Diese Wissenschaften scheinen nicht in der Lage, die christlich-kaiserliche Mythographie zu schreiben, die das Schicksal der im Abendland erfundenen Staatsform, das Geheimnis seiner weltweiten Effizienz verständlich machen könnte, d. h. das Geheimnis einer fiduziarischen Transzendenz — oder einer Religion, will man es in unserer abgenutzten Sprache sagen —, zusammengebunden mit der Fähigkeit, die Alterität durch ein nur instrumental verstandenes Regelwerk in sich aufzunehmen.
Das Imperium der Geschäftswelt, auf dem die Globalisierung (implizit die der abendländischen Lebensweise) sich aufbaut, ist ein langfristig logischer Effekt der europäischen Mythographie des Staates. Dieses erläutert, was von der Okzidentalisierung der Welt verlangt wird — eine Art Beschlagnahmung der Montagen der Identität durch Selbstmord oder Folklorisierung der exotischen Kulturen. Damit wir diesen Vorgang erfassen, müssen wir den ethnographischen Blick auf den Schmelztiegel der Modernität gewinnen : die Inszenierung der lebendigen Schrift im klassischen Mittelalter.
Doch der ethnographische Blickwinkel, der voraussetzt, die Institutionen des Abendlands so zu studieren, als ob ich ihnen fremd sei, ist nicht selbstverständlich. Dagegen sprechen die gängigen Methoden. Diese nähern sich dem historischen Schatz Europas, indem sie Subjekt und Gesellschaft als Gegensatz betrachten und somit die Frage der Instituierung der Vernunft (instituer la Raison) überhaupt nicht in Betracht ziehen. Außerdem isolieren sie das Rechtswesen in einem « Reservat », wo wissenschaftliche Fachgebiete sich nebeneinander befinden, wie üblich mit dem Status von reinen Techniken oder Randstudien, unter diesen auch eine meist hörige, gefügige Rechtsgeschichte, ohne große Bedeutung…
Die lebendige Schrift ist der Prototyp des Staates. Mythologisch ist sie durch eine Formel bestimmt, die schon im 12. Jahrhundert vom Papsttum aus der Kultur der alten Römer entlehnt wurde. « Er trägt alle Schriften des Rechts im Archiv seiner Brust » (Omnia jura habet in scrinio pectoris sui). Dieses « er » ist eine Ahnenfigur, eine Präfiguration des Staates. In der Antike wurden « die Geheimnisse der Befehlsgewalt » (arcana imperii), die in der Obhut des kaiserlichen Herrschers lagen, durch diese Formel feierlich beschworen.
Indem man diese Aussage benutzte, sie mit der von den Kanonisten übernommenen Thematik des « dienenden Stellvertreters Christi » (vicarius Christi) verknüpfte, um den theologischen und juristischen Status des Papstes zu bestimmen, erreichte die päpstliche Romanität mit einem Schlag einen doppelten Zweck. Die für die politische Macht notwendige Transzendenz wurde inszeniert, und zugleich wurde die Funktion des Papstes als Setzer der Regeln legitimiert, der nun vom Römischen Recht nahm, was ihm zur Verfügung stand.
Hier finden wir den Prototyp der Montagen, die wir Staat nennen. Ich benutze das Wort Prototyp, weil die westeuropäischen Nationen, die sich eines Tages zu kolonialen Eroberungen aufmachen würden, die Leistung der Scholastiker neu aufgelegt haben. Ihre Monarchen haben es nicht unterlassen, ihrerseits den römischen Kaiser nachzuahmen, seine Attribute zu besitzen — « Durch Waffen und Gesetze » (Armis et Legibus) —, wie das Papsttum es durch Riten und Taten die europäische Christenheit gelehrt hatte.
Betrachten Sie das Emblem, das den König von England als römischen Kaiser darstellt. Dieser im Jahre 1630 veröffentlichte Kupferstich von George Wither zeigt, wie man dem Beispiel der Gründung folgt. Der entstehende moderne Staat passt sich der vom päpstlichen Stuhl erarbeiteten Mythographie an. Der päpstliche Stuhl wurde zum Förderer der « Nachahmung des Reiches » (imitatio imperii) : eine politische Romanität, die sich überall ausgebreitet hat, führt in Westeuropa die Konkurrenz zwischen den Staaten im Kampf um die Vormacht ein.
Um die strategische Bedeutung dieser Theologie der höchsten Herrschaft in den kriegerischen Auseinandersetzungen auf unserem Kontinent zu verstehen, sollten wir uns nochmals an den Scharfsinn der Juristen und Politologen erinnern, die im Mittelalter Urheber der Maxime waren : « Ein einziger Kaiser auf der Welt » (Unus Imperator in Orbe), anders gesagt : für einen zweiten gibt es keinen Platz.
Beweis dafür ist die tausendjährige Rivalität zwischen Frankreich und Deutschland, um sich die historische Figur Karl des Großen anzueignen : eine Statue des Helden zu Pferd steht auf dem Vorplatz der Kathedrale Notre-Dame in Paris, während seine Grabstätte im Inneren des Aachener Doms — Aix-la-Chapelle — auf deutschem Boden ehrfurchtsvoll bewahrt wird. Ist dies heute nur ein historisches Überbleibsel, touristische Folklore ?
Denken wir daran, dass dieser Frankenkönig, der zum karolingischen Kaiser gemacht wurde, die germanische Ahnenfigur ist, die zwei Nationen gemeinsam ist, die wie Todfeinde um die Hinterlassenschaft des Vaters miteinander streiten, d. h. um die daraus entspringende Legitimität und den dazu gehörenden Machtanspruch kämpfen. Was dabei latent auf dem Spiel steht, ist der ursprünglich tribale, bis zum Duell führende Kampf zwischen den Brüdern und bleibt im Schicksal eines ungewissen « deutsch-französischen Paars » in Europa unterschwellig wirksam.
Denken wir darüber nach : Welcher westliche Staat hat heute die Machtposition — vor allem die theatralische Machtposition — das politische Spiel zu gewinnen, wenn es nicht (vielleicht provisorisch) der Herrscher und Meister der Blitzgewalt Jupiters namens Vereinigte Staaten von Amerika wäre ? Vergessen wir also niemals, wie wichtig die Ur-Inszenierung des theologisch-politischen und juristischen Imperiums innerhalb der Kultur westeuropäischer Tradition ist, dem Schmelztiegel des globalisierten Industrialismus.
Die Reihe meiner Lektionen hat das entscheidende Element aufgedeckt, das für die Ankunft des Abendlandes als vorherrschende Kultur von strategischer Bedeutung war. Dieses Element, die christliche Zwiefalt (la schize chrétienne), dieses Gründungshistorial findet sich in den versteckten Winkeln unserer Institutionen.
Es war unser Anliegen, aus diesen versteckten Winkeln das auszugraben, was das Christentum von den beiden anderen Monotheismen, dem jüdischen und dem islamischen, unterscheidet, was das Christentum darüber hinaus von den von Ethnographen verzeichneten Montagen abgrenzt. Auf diesem Weg kamen wir zu jener bedeutenden Entdeckung.
Die christliche Offenbarung enthält keine Rechtsverfassung. Ihr außergewöhnliches Schicksal, das mit der Gestaltung der europäischen Moderne einhergeht, stützt sich auf die römische Antike, d. h. es ist eng verknüpft mit den Beilagen der Rechtskultur der Römer, welche das Vakuum der Rechtsregeln im evangelischen Text beseitigte. Darauf folgte das Erscheinen einer in der Entwicklungsgeschichte völlig neuen Organisationsstruktur. Zu dieser Problematik haben meine Schriften vielleicht einige entscheidende Hinweise gegeben.
Auf welche Weise wurde diese politische und dann juristische Partie gespielt im Westen und im Osten ? Und wie konnte die Verbreitung der römisch-kaiserlichen Theatralisierung hier im Westen sich dauerhaft ohne größere Konflikte halten ? Wie konnte sie dauerhaft halten nach der Erfahrung der päpstlichen Theokratie, die durch die verwirrende Überfülle an Macht groß angelegt den Apfel der Zwietracht brachte ? In dieser Hinsicht erscheinen, gemessen an der planetarischen Bedeutung der Gestalt des Staates, das Erwachen des weltlichen Denkens mitten im Mittelalter, die protestantischen Revolutionen, die sich entfaltende Aufklärung und die europäischen Bürgerkriege in einem anderen Licht.
Übersetzt von Veronika Guest