Ars Dogmatica

Pierre Legendre

Et caetera

Und so weiter…  Ich denke an die Formel, die im Frankreich des Ancien Régime bei der Niederschrift der notariellen Urkunden gang und gäbe war : « Misstraue dem et caetera des Notars ! » Das Recht zu dieser Zeit war eine unentwirrbare Verflechtung von mündlichen Gebräuchen und schriftlichen Regeln, was die Arbeit der Notare schwierig, ja unmöglich machte. Um ihre Klienten vor Prozessen zu schützen, halfen sie sich mit der Klausel « et caetera » aus der Klemme. So kam es zu jener Maxime der rachsüchtigen Anwälte, die stets begierig auf der Suche nach Klägern waren. Ein unerschöpfliches literarisches Thema !

Und so weiter… ist hier eine Klausel, die die Idee des Unvollendeten festhalten soll, die der Programmierung des Wissens fremd ist.

So viele Fragen… wurden von mir berührt. Wie zum Beispiel der Fall Frankreich, der mir zuerst zugänglich war. Was kann ich hier weiter in freien Bruchstücken erörtern ?

Die Reflexion über den Staat in Frankreich ist in ihrem eigenen Kodex steckengeblieben. Die Form des Staates wird aus der ätherischen Sphäre der Prinzipien betrachtet, sie ist mit der Rede von laizistischer Pietät umgeben, um die Figur der Republik versammelt, als friedliche und wohlwollende Matrone zur Statue auf einem berühmten Pariser Platz errichtet — eine unbewusste Erinnerung an die Göttin Vernunft von Robespierre !

Hier in Frankreich wird das Echo des internationalen Dschungels kaum wahrgenommen, in dem sich neue Formen der Macht, manchmal Skizzen von privaten Imperien bekämpfen, die transkontinentale Ansprüche stellen, welche den aus der Vergangenheit ererbten Kategorien der politischen Theorie nicht mehr entsprechen. Was die berühmte Nationale Verwaltungsakademie (École Nationale d’Administration) angeht, darf man sagen, dass diese heute allzu zaghaft ist, um es zu wagen, die Studenten mit juristischen Akten als Belege arbeiten zu lassen, damit sie auf die Härte des Imperiums der Geschäftswelt vorbereitet sind, mit dem sich die Staaten werden auseinandersetzen müssen. Im Lauf der letzten Jahre ist es mir so vorgekommen, dass die Akademie eher mit der Konsolidierung dessen beschäftigt ist, was Balzac eine Mediokratie nannte.

E la nave va… Man möchte vielleicht wissen, wie es so weiter läuft. Die automatische Klassifizierung in rechts und links, die, wenn ich mich richtig erinnere, zur Zeit der Revolution eine Idee des Doktor Guillotin (des Erfinders der guillotine !) war, hat schließlich das soziale Leben selbst verdunkelt.

Vergessen wir außerdem niemals die okkulte Regelung für die republikanische Wohngemeinschaft, die von Robespierre und den Seinigen praktiziert wurde : zwei verschiedene Legalitäten, die konstitutionelle und gleichzeitig die aufständische in Anspruch zu nehmen. Die Politologen beschränken sich darauf, eine so genannte « Macht der Straße » festzustellen, ohne weiter darüber nachzudenken… Denn es wäre vielleicht ein Risiko, die von anfälligen Geistern bevölkerten politischen Parteien zu verwirren.

Ich begnüge mich damit, über das von Arnaud Teyssier formulierte Urteil zur politischen Entwicklung der V. Republik nachzudenken : « eine demokratische Unreife ».

Und so weiterweiter und weiter muss der institutionelle Erfindungsgeist des sprechenden Geschlechts untersucht werden. Dabei darf die Verwüstung durch die Diktaturen, besonders die Hitlerdiktatur als Zusammenbruch der modernen Zivilisation nicht aus dem Blick verloren gehen. Das Faktum selbst wurde wohl herausgestellt, die Kettenfolge seiner Wirkung auf das Abendland als Ganzes aber nicht.

Ich komme hier nicht zu sprechen auf das Unerhörte des Vatermordes, der im Umfang der ganzen Kultur vollzogen wurde, auf den Mord der jüdischen Ahnenfigur, mit dem die Zerschlagung der genealogischen Strukturierung begann. Ich weiß, die Bereitschaft, meine Äußerungen dazu zu hören, wird sich nicht finden. Und dies nicht nur weil die Enthüllung der genealogischen Kulissen der Vernunft (der subjektiven, wie der juristischen) durch das Versagen der Psychoanalyse getrübt ist, sondern auch weil der ultramoderne Individualismus, der, von einem sozialen Wahn genährt, so unabwendbar ist wie der subjektive, sich der normativen Hebel ermächtigt hat. Was wir in Wahrheit erlebt haben ist die Erfindung der Diktatur in der Freiheit…

Aus meiner internationalen Erfahrung weiß ich, dass die systematische Zerstörung der ehemaligen Montagen der Transzendenz — im « Namen der Entwicklung » — in den Gesellschaften der Ex-Kolonien einen Mechanismus der genealogischen Verwirrung herbeigeführt hat, der anfangs kaum wahrnehmbar war, aber — auf längere Zeit beobachtet — sich für das Subjekt wirklich « erschreckend » ausnahm. Dieses Phänomen verschärfte sich noch mit den großen Migrationsbewegungen in Richtung Abendland. Keine warnende Stimme, keine vorausschauende Erklärung konnte die von außen kommenden « Entscheider » in ihrem Entschluss ins Wanken bringen, die Unesco inbegriffen. Vergeblich habe ich auf diese verhängnisvolle Spirale hingewiesen…

Heute kann ich hinzufügen : Ob im Norden oder Süden, die Menschen sind getrieben, über ihre psychischen Verhältnisse zu leben. Diese Sachlage einzuräumen scheint heute unmöglich, zumal die Krankheit des dschihadistischen Terrorismus überall bekämpft werden muss. Die notwendige Selbstbesinnung des Abendlandes, das Erkennen der genealogischen Auflösung, die durch einen entfesselten Libertarismus verhüllt ist, bleibt heute noch unannehmbar. Wenn das kritische Nachdenken abwesend ist, wird es nicht reichen, sich auf Armee und Polizei zu verlassen. Die Tatsache, dass die Pädagogen und die gesetzgebenden Instanzen sich weigern, den Kurs zu ändern, d. h. unsere eigenen untergehenden dogmatischen Strukturen zu hinterfragen, hebt den Zusammenbruch einer Zivilisation hervor, die nicht mehr fähig ist, das Unvordenkliche zu denken : die genealogische Schuld.

Und so weiter…   Das menschliche Fragen ist ohne Ende, dennoch findet es seine Grenzen.

Die Zukunft ist ein versiegelter Brief. Das Nachkommende dessen, was wir Gegenwart nennen, wird sagen, ob wir heute auf dem Wege sind, die Selbstzerstörung des menschlichen Geschlechts vorzubereiten, oder ob nur die Bedrohung einer unerhörten Knechtschaft über uns schwebt, wenn wir einige Generationen reibungslos massakrieren und den Bequemlichkeiten des Massenindividualismus opfern.

Dieser Prozess der Ent-Instituierung, die seit dem letzten Weltkrieg mit  dem Anspruch einer neuen moralischen Ordnung gefördert wurde, verdiente ein « Höllentagebuch ». Doch die radikale Dichtung, die den Wahnsinn bekämpft, ist verstorben. Es bleibt uns die Trivialität und ihre Dogmen — noch ist diese sozial anerkannt.

Das Gedächtnis des Menschengeschlechts enthält eine Lehre : im Leben wirkt etwas Kostbareres als das Leben selbst, das keinen Preis hat und die Weitergabe der Menschheit trägt und immer wieder Neuanfänge ankündigt.

Denn die existenzielle Sorge, die dem Subjekt innewohnt, bleibt : Warum ? Hier liegt der Urgrund des Diskurses, Grund, der mit äußerster Stimmigkeit ins fiduziarische Element (das weiter reicht als die Religion), in die Mythen und Riten übertragen worden ist. Genau dies ist durch den Humor eines jiddischen Lieds — Das ewige Rätsel — ausgedrückt, 1914 wurde es von Ravel vertont :

 

« Die Welt stellt die alte Frage
Tra la tra la la la la…

« Die Welt stellt die alte Frage
Tra la tra la la la la… »

L’Enigme éternelle, chant yiddish, mis en musique par Maurice Ravel et interprétée ici par Victoria de Los Angeles

Übersetzt von Veronika Guest

 

Emblème

Solennel, l’oiseau magique préside à nos écrits.
Le paon étale ses plumes qui font miroir à son ombre.
Mais c’est de l’homme qu’il s’agit :
il porte son image, et il ne le sait pas.

« Sous le mot Analecta,
j’offre des miettes qu’il m’est fort utile
de rassembler afin de préciser
sur quelques points ma réflexion. »
Pierre Legendre

« Chacun des textes du présent tableau et ses illustrations
a été édité dans le livre, Le visage de la main »

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