Ars Dogmatica

Pierre Legendre

Sie glauben das Abendland zu kennen ?
Reiseberichterstattung

Eruditio, sei der erste Schritt ins Abenteuer : man verlasse die rauhe Natur, das ungehobelte Wissen, um sich in den verschiedenen Weisen der Aneignung des Gedächtnisses unterweisen, sich unbekannte oder riskante Wege der menschlichen Erfahrung zeigen zu lassen. Hier warnt schon die Etymologie vor der Anmaßung, das Denken könne sich auf Informationsreserven reduzieren. Ars dogmatica versteht sich nicht als Think-Tank

Die Geschichte des Europäischen Rechts war für mich der Kompass des Anfängers. Diese Geschichte weist auf die Quelle des Monotheismus hin und enthüllt eine Entwicklung, die in eineinhalb Jahrtausenden Sprünge und Erschütterungen durchmacht und dann zu dem führt, was wir heute sind : Produkte eines Räderwerks von sich verschränkenden Genealogien, deren provisorischer Endpunkt, die von Technik-Wissenschaft-Wirtschaft beherrschte Welt, unsere Gegenwart konstituiert… in Erwartung des Kommenden, d. h. des Unvorhersehbaren.

Der Kern dieser Entwicklung ist in der Tat, gleich dem « festen Punkt » eines Flugzeugs unmittelbar vor dem Start, die Probezeit, die wir Mittelalter nennen, diese Epoche zwischen zwei Zeitaltern, der untergegangenen Antike und der Neuzeit, Avantgarde der künftigen weltweiten Industrialisierung.

Die Probe fand in einer ersten europäischen Revolution im 11. Jahrhundert statt. Als das Papsttum den im Westen hinfällig gewordenen Kaisertitel « Pontifex Maximus » für sich beansprucht, schickt es sich an, den Mangel an juristischen Regeln im ursprünglichen christlichen Text zu beheben. Eine kämpferische Exegese sucht und hackt im Regelwerk des im Westen zusammengebrochenen Römischen Reiches, während das östliche Reich mit dem in Konstantinopel regierenden Römischen Kaiser des griechisch-orthodoxen Teils des Reiches weiter floriert.

Ein Resultat von großer strategischer Bedeutung : die euro-amerikanische Kultur beruht somit nicht nur auf dem theologischen Fundament der Bibel, dem vom Christentum — Katholizismus wie Protestantismus — weiterinterpretierten Jüdischen Buch, sondern beruht auch auf dem römischen juristischen Monument, das im Orient synthetisiert und als solches vom byzantinischen Kaiser Justinian den westeuropäischen Völkern überreicht wurde.

Betrachtet man die heutigen Auseinandersetzungen, wie sie im Westen von den Medien dargestellt und von den politischen Instanzen ausgetragen werden, darf man fragen, ob es einen Platz für den « Parameter » geben könnte, der ein genealogisches Schicksal enthüllt und Justinian als gemeinsame Ahnenfigur sowohl für den europäischen Westen als auch für den balkanischen und russischen Osten Europas anerkennt. Nein ! Das wäre zu viel verlangt für das Nicht-wissen-wollen. Es herrscht in Frankreich außerdem die Selbstgefälligkeit einer gewissen intellektuellen Schicht, die gegen jede Perplexität immun zu sein scheint.

Première page du manuscrit de la Pierpont Morgan Library, ms.903, La Summa Institutionum, Justiniani est in hoc opere, début du XIIIe siècle

Der Zufall, Herr aller Entdeckungen, war mir ein Wegweiser in dieser Disziplin, der historischen Erforschung der religiösen und juristischen Montagen im mittelalterlichen Abendland. Aus Angst, man könne über die Herkunft des europäischen Kontinents etwa zu viel erfahren, hatte man diese Disziplin in den Hintergrund gedrängt.

Was könnte man denn erfahren ? Vor allem dies, dass niemand anstelle eines anderen träumen oder denken kann und diese Bemerkung auch auf der Ebene der verschiedenen Gesellschaften gültig ist. Die Anmaßung, sich religiös, sozial, politisch klonen zu wollen, die Auflösung in einem planetarischen Magma anzustreben ist zum Scheitern verurteilt, führt zum Ausbruch der Gewalttätigkeit.

Was habe ich selbst dabei gelernt, das der Überlieferung würdig sei ? Die Geschichte des Rechts bleibt ein Ausweis für die Auswanderung in den Bereich der Schriften ohne Grenzen. Dennoch hat mich diese mönchisch anmutende Disziplin das Warten gelehrt, immer zu warten, dorthin weiter zu gehen, wo ich dem Rätsel der Fremde begegnen würde. Nachdem ich die lateinische Sprache zu genießen gelernt hatte, so wie sie von den Kopisten der Scholastik überarbeitet und verzerrt worden war, wurde ich mir auch dessen bewusst, dass ich auf Ablagerungen von Diskursen weilte, die unsere heutige Wohnweise in der Welt untermauern, dass  meine Arbeit nur eine Untersuchung der Oberfläche war, die uns den Abgrund einer schon lange aus dem abendländischen Bewusstsein verbannten Primitivität verdeckte.

Mit staubbedecktem Fuß meiner normannischen Ahnen und dem Gefühl, dass die große juristische Glosse, selbst mit Wirtschaft und Philosophie angereichert, nur eine Propädeutik war, ließ ich mich dazu verleiten, nach Afrika zu gehen, das von den politischen Wirbelstürmen des Kalten Krieges aufgewühlt war, aber auch private Beraterfirmen wie internationale Institutionen gastfreundlich empfing… Abseits vom Tohuwabohu lebten die Traditionen aus unvordenklicher Zeit mit ihren gelehrten Kreisen, ihren wohlgehüteten Geheimnissen, ihrem unverfälschten Lehren. Dort fand ich endlich das Objekt meiner Erwartung : die wahre Fremde. Instinktiv erkannte mich dieses Afrika als einen der Seinen.

Die Lektüre von Mallarmé gab mir zu verstehen, wie groß die Bedeutung der « inkubatorischen Zeiten » ist, die den sich suchenden Gedanken notwendig sind. Meine afrikanischen Lehrer und Meister haben mich gelehrt, auf das ungeheuerliche Unterfangen zu verzichten, eines Tages eine endgültige Antwort auf alle Fragen zu finden… Und ich habe gelernt zu fassen, dass der Mensch « klingt » (résonne), bevor er « vernünftig spricht » (raisonne). Er klingt durch die Reden einer Tradition, und wenn die elementare Erziehung ihn zivilisiert hat, dann räsoniert er eigenständig, ist zum anthropos geworden, wie die Alten Griechen ihn beschrieben haben.

In Afrika erkannte ich auf der Stelle, wie auch später in Japan, die ursprüngliche Gewissheit des Gesprächs des Menschen mit dem Universum, was die Intuition der in Europa vertrauten Monotheismen bestätigte, die auf die absolute Herrschaft des Wortes gegründet sind. Eine Intuition, von der die Errungenschaften der wissenschaftlichen Forschung, die vor unseren Augen das Kleinste und das Unendliche der Welt untersuchen, nicht abweichen.

Dann kehrte ich nach Hause zurück, mit der Gewissheit : Will man die Architekturen der Diskurse, die die Menschheit zum Überleben und Weitergeben erarbeitet hat, verstehen, so bedeutet es, dass man die Gesellschaft wie einen Text studieren muss. Auf diese Weise arbeitete ich an der Identifizierung der Grundlagen des Abendlandes, das ebenfalls der Notwendigkeit unterliegt, sein zivilisatorisches Gebäude aufrecht zu erhalten, indem es den juristischen Apparat an den religiös-mythischen Sockel bindet, der das Ganze stützt, d.h. an den vulkanischen Untergrund der Vernunft, den wir « Grund » nennen. Dabei habe ich nach und nach das große Geheimnis entdeckt.

Drei wesentliche Komponenten kennzeichnen unsere Montagen : 1. ein periodisches Erbeben des Sockels, der dem Bau als Grundlage dient. 2. die Vorstellung, nach der das juristische Material rein technisch bestimmt sei. 3. die extreme Labilität eines Dritten (tiers terme), der Funktion, die das Zusammengefügte zementiert.

Warum diese Komplexität ? Warum die aufeinanderfolgenden Masken der Legitimität ? Inwiefern zeugt unsere Vokabel Religion, die seit den Römern so sehr verdreht wurde und heute in aller Munde ist, von dieser Entwicklungslinie ? Schließlich, wenn eine theoretischer Schwelle überschritten werden soll, was bedeutet die ternäre Struktur, ist sie eine bloße Abstraktion ?

Sich auf das Abenteuer solcher Fragen einzulassen, ist die Aufgabe von ausdauernden Geistern, die fähig sind, über unsere historiographischen Schranken hinaus zu gehen.

Amadou Hampâté Bâ photographié avec un jeune initié (photographie donnée à Pierre Legendre)
Justinien, détail du manuscrit de la Pierpont Morgan Library, ms.903, début du XIIIe siècle 

Übersetzt von Veronika Guest

Emblème

Solennel, l’oiseau magique préside à nos écrits.
Le paon étale ses plumes qui font miroir à son ombre.
Mais c’est de l’homme qu’il s’agit :
il porte son image, et il ne le sait pas.

« Sous le mot Analecta,
j’offre des miettes qu’il m’est fort utile
de rassembler afin de préciser
sur quelques points ma réflexion. »
Pierre Legendre

« Chacun des textes du présent tableau et ses illustrations
a été édité dans le livre, Le visage de la main »

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